GÖTTINGEN – Aus Anlass des heutigen (20.09.) Weltkindertages blicken wir in einem Interview mit dem ehemaligen Radprofi Jens Voigt in seiner Funktion als Schirmherr der Initiative „Kinder+Sport“ auf die Bedeutung des Radfahrens für Kinder.
Im Rahmen der Deutschland-Tour veranstaltete die Initiative „Kinder+Sport“ diverse Aktionen, um Kindern Freude am Radfahren zu vermitteln. Schirmherr ist der sechsfache Vater und ehemalige Radprofi Jens Voigt. Im Interview, das der pressedienst-fahrrad für uns geführt hat, verrät Voigt auch, warum die Verantwortung für die Raderziehung seiner Meinung nach bei den Eltern liegt.
Jens, du bist nach deiner aktiven Karriere dem Rennsport in vielerlei Hinsicht treu geblieben. TV-Experte, Markenbotschafter eines Fahrradherstellers und im Rahmen der Deutschland-Tour engagierst du dich für die „Kinder+Sport Mini Tour“. Warum ist dir das Radfahren von Kindern so wichtig?
Jens Voigt: „Ich finde, man kann gar nicht früh genug anfangen, Kindern einen aktiven Lebensstil näherzubringen. Wenn man aktiv lebt, lebt man einfach besser und gesünder. Vorleben ist das eine, Kinder sollten sich aber auch aktiv daran beteiligen. Das Laufrad ist der erste Schritt. Ich bin Vater von sechs Kindern und alle haben mit dem Laufrad angefangen. Man sieht einfach, wie viel Spaß die Kinder damit haben und wie wichtig ihnen dieses Thema ist. Mit dem Laufrad sind sie selbstständiger. Sie lernen Verantwortung für sich und das Rad zu übernehmen, wenn sie durch die Nachbarschaft fahren. Danach kommt das erste richtige Fahrrad und idealerweise fährt man damit in den Kindergarten oder in die Schule, später in die Uni oder zur Ausbildung und noch später als Erwachsener fährt man mit dem Fahrrad zur Arbeit. Jedes Auto weniger auf der Straße ist schön für uns und durch das Radfahren ist man einfach entspannter. Die Grundlage dafür wird bereits in jungen Jahren gelegt.“
Wie hast du selbst deinen Kindern das Radfahren beigebracht und konntest ihren Weg zur Mobilität miterleben? Du warst ja in deiner aktiven Zeit viel unterwegs.
„Wir haben zu Hause eine sehr traditionelle Rollenverteilung: Radfahren beibringen war Papas Job. Immer wenn ich nach Hause kam, habe ich zuerst geguckt, ob die Fahrräder noch passen. Denn die richtige Größe ist wesentlich, dass das Kind auch Spaß am Radfahren hat. Bis Kinder richtig Fahrrad fahren können, dauert es dann eigentlich nur eine Stunde. Das ist gar nicht schwierig. Wichtig: Vom Laufrad gleich auf das richtige Rad umsteigen. Nicht den Zwischenschritt mit Stützrädern machen. Das ist kontraproduktiv. Dann werden sie eher langsamer und unsicherer. Zum Training hält man am besten am Gepäckträger fest und lässt das Kind im Kreis fahren. Zuerst lässt man mal kurz für eine Sekunde los, dann für ein paar mehr Sekunden und irgendwann bleibt man einfach stehen und das Kind ist dann so stolz, dass es alleine fahren kann. Positive Motivation ist wichtig, also nicht meckern. Eher: ‚Das machst du ganz großartig. Wir schaffen das gemeinsam.‘ Und dann geht das ganz easy. Ich hatte immer Zeit, mit den Kindern nach dem Kindergarten oder nach der Schule noch Fahrradfahren zu üben. Irgendwann geht es dann raus auf die Straße und ich habe versucht, den Kindern zumindest die Grundkenntnisse wie Vorfahrtsregeln und Verkehrsschilder zu vermitteln.“
Ist es problematisch, dass einzig die Eltern für die Raderziehung zuständig sind? Oder gibt es Möglichkeiten, dass Einrichtungen wie Kitas oder Schulen auch einen Teil dazu beitragen können? In vielen Kitas stehen nicht einmal Laufräder zur Verfügung, weil die Erzieherinnen Angst vor einem Sturz und den rechtlichen Konsequenzen haben.
„Radfahren lernen ist 100 Prozent Elterninitiative. Das ist aber auch ein Problem: Eltern sind oftmals viel zu beschützend. Das Kind fällt mit dem Fahrrad im Kindergarten hin, hat nicht mal einen Kratzer und die Eltern kommen mit Anwälten und verklagen die Kita. Die Erzieher werden angemotzt, das Kind sei verletzt und sie würden ihren Job nicht richtig machen. Dass die Einrichtungen deshalb gleich ganz abblocken und sich aus vermeintlichen Gefahrengründen aus der Fahrraderziehung raushalten, ist verständlich. Wir haben mit der Kids Tour auch überlegt, in Kitas etc. aktiv zu werden. Aber dann müsste man einen fünfseitigen Versicherungsvertrag aufsetzen und von den Eltern unterschreiben lassen. Das ist viel zu kompliziert. Deshalb sehe ich keine Chance. Generell muss man sagen: Unser Bildungssystem ist völlig am Boden. Es gibt aus meiner Sicht gar nichts Gutes darüber zu sagen. Meine Kinder sind zwischen 24 und acht Jahren alt. Ich habe also etwas Erfahrung sammeln können. Die Lehrer sind mittlerweile glücklich, Kinder das Einmaleins lehren zu können. Die haben keine Zeit oder Kapazitäten, den Kindern auch noch Fahrradfahren beizubringen. Wenn, dann müsste man eine Schul-AG am Nachmittag machen, dabei ist aber auch wieder Elterninitiative gefragt. Ich sehe die Extra-Arbeit nicht bei den Schulen, denn es wird nicht besser. Wir brauchen mehr Geld, mehr Lehrer, kleinere Klassen, mehr Schulräume.“
Eher ist ja das Gegenteil der Fall. Viele Schulen untersagen den Schülern, dass sie vor der Radfahrprüfung in der vierten Klasse mit dem Rad zur Schule fahren dürfen.
„Bei uns ist das zum Glück anders. Wir leben in Berlin-Charlottenburg und unsere Kinder gingen bzw. gehen in eine Wald-Grundschule. Wie der Name bereits sagt, liegt diese im Wald mit einem großen Schulhof. Aber die Zufahrt ist sehr schmal. Deshalb sagt die Schule, dass die Eltern nicht mit ihren SUVs vorfahren können. Bei 450 Schülern wäre das Verkehrschaos vorprogrammiert. Die letzten Meter sollen zu Fuß oder mit dem Fahrrad gemacht werden. Dadurch wird die Verkehrssituation entzerrt. Das klappt ganz gut. Die Schule befürwortet es sogar, wenn die Schüler mit dem Rad kommen und gemeinsam fahren. So gibt es eine Woche, wo alle Eltern das Auto stehen lassen sollen oder die Kinder bekommen Stempel in eine Art Bonusheft, wenn sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad kommen. Aber die Schule ist natürlich nicht im Stadtzentrum und eher ein kleiner Hort der Glückseligkeit.“
(Text: pdf | Titelfoto: Luka Gorjup (pd-f.de))
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Stephan Dietel
Er wohnt im Gießener Ortsteil Rödgen und legte im Jahr 2001 mit Erlebnisberichten über selbst gefahrene Radrennen den Grundstein. Mit großem Interesse am Radsport und am Journalismus entwickelt er mit seinem Team die Radsportnachrichten aus Mittelhessen immer weiter.