Hochs und Tiefs im mittelhessischen Fahrradklima

BERLIN/GIESSEN – Im Bundesverkehrsministerium in Berlin wurden heute (16.03.) die Ergebnisse des ADFC-Fahrradklima-Test 2020 vorgestellt. Der ADFC Gießen hat sich die Ergebnisse in seinem Bereich genau angesehen und analysiert.

Beim ADFC-Fahrradklima-Test 2020 schaffte es Gießen mit einer Schulnote von 3,9 erneut nur ins Mittelfeld der fahrradfreundlichsten Städte. Die Gemeinde Buseck erreicht mit einer Schulnote von 3,17 bundesweit den 26. Platz von 418 Kommunen. Pohlheim erreicht mit einer Note von 3,45 Platz 70 und die Stadt Linden landet bei der Fahrradfreundlichkeit auf Platz 297 mit einer Note von 4,07.

609 Gießenerinnen und Gießener haben im Herbst 2020 an der bundesweiten Befragung teilgenommen. Unzufrieden sind Gießens Radfahrerinnen und Radfahrer vor allem mit der Breite der Radwege, dem Falschparken auf Geh- und Radwegen sowie der Führung an Baustellen. Lichtblicke gab es erneut bei geöffneten Einbahnstraßen, Leihfahrrädern und der Erreichbarkeit des Zentrums. Der ADFC Gießen fordert, dass die Stadt Gießen ein geschlossenes Netz aus Fahrradstraßen schafft, und den Verkehrsversuch am Anlagenring im Herbst startet. Fördergelder von Bund und Land von bis zu 90% stünden dafür zur Verfügung.

„Die Corona-Zeit hat viele Menschen neu auf das Rad gelockt – und wir wollen, dass sich auch die Neuaufsteiger auf dem Rad wohl und sicher fühlen.“

ADFC-Gießen-Vorstandsmitglied Jan Fleischhauer

ADFC-Vorstandsmitglied Jan Fleischhauer sagt: „Die Corona-Zeit hat viele Menschen neu auf das Rad gelockt – und wir wollen, dass sich auch die Neuaufsteiger auf dem Rad wohl und sicher fühlen. Leider ist das in Gießen oft nicht der Fall. Immer wieder werden an Baustellen nicht die Schilder aufgestellt, die die Straßenverkehrsbehörde vorgegeben hat und auch nach Beschwerden ändert sich das nicht. Seit Jahren mangelt es an einer konsequenten Ahndung von Falschparkern auf Rad- und Gehwegen. Teilweise wird das Falschparken bewusst geduldet oder Kontrollen finden nur alle paar Wochen sporadisch statt, so dass das Falschparken nicht endet. Statt Autos bei gefährdendem Falschparken konsequent abzuschleppen wird oft nur ein Knöllchen angebracht. Die Stadt hat bis heute noch nicht Tempo 30 vor allen Schulen und Kindergärten umgesetzt und lehnt seit Jahren das vom Regierungspräsidium vorgeschlagene Tempo 30 auf den lärmbelasteten Teilen des Anlagenrings und anderen Hauptstraßen ab.“

Auch beim diebstahlsicheren Fahrradparken liegt aus Sicht des ADFC einiges im Argen: „Die Stellplatzsatzung schreibt zwar seit vielen Jahren vor, dass bei allen Neubauten sichere Rad-Stellplätze realisiert werden müssen. Einige Bauherr*innen halten sich aber nicht an die Satzung und das Bauordnungsamt ist offensichtlich selbst nach Hinweisen aus der Bevölkerung nicht in der Lage oder nicht gewillt, die Stellplatzsatzung durchzusetzen. Damit Gießen wirklich einladend zum Radfahren wird, brauchen wir ein Netz aus Fahrradstraßen bis in die Nachbarkommunen und mehr und bessere Querungsmöglichkeiten an den innerörtlichen Hauptstraßen.“ Der ADFC nennt exemplarisch die für Fußgänger wie Radfahrer unbefriedigende Querungsmöglichkeiten an der unteren Marburger Straße – eine von vielen Stellen, die laut dem über zehn Jahre alten Radverkehrsentwicklungsplan längst hätte umgestaltet werden sollen. Um die baulichen Verbesserungen in Gießen zu realisieren, stelle der Bund mit dem Sonderprogramm „Stadt und Land“ ausreichende Finanzmittel zur Verfügung. Die Stadt müsse jetzt nur die vielen Planungen vollenden und beim Geld zugreifen, so der ADFC Gießen.

Rekord: Rund 230.000 Teilnahmen, 1.024 Städte in der Wertung

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) ist mit über 200.000 Mitgliedern die größte Interessensvertretung der Radfahrerinnen und Radfahrer in Deutschland und weltweit. Der ADFC-Fahrradklima-Test wird vom ADFC alle zwei Jahre mit Unterstützung des Bundesverkehrsministeriums durchgeführt und fand 2020 zum neunten Mal statt. Rund 230.000 Radfahrerinnen und Radfahrer haben bei diesem Durchgang abgestimmt, davon nur 15 Prozent ADFC-Mitglieder. 1.024 Städte kamen in die Wertung, mehr als jemals zuvor. Bei den 27 Fragen ging es darum, ob man sich auf dem Rad sicher fühlt, wie gut die Radwege sind und ob die Stadt in Zeiten von Corona das Fahrradfahren besonders fördert. Damit fundierte Ergebnisse erzielt werden, müssen pro Stadt mindestens 50, bei größeren Städten mindestens 75 beziehungsweise 100 Abstimmungsergebnisse vorliegen. Die Ergebnisse des Tests haben durch die breite Bürgerbeteiligung hohe Aussagekraft und können Kommunen helfen, das Angebot für Radfahrende gezielt zu verbessern.

Seit dem Test im Jahr 2014 hat sich die Gesamtnote der Stadt Gießen von 3,7 auf 3,9 verschlechtert. Gießen liegt im Landesvergleich auf Platz 47 von 109 Städten. Dass es besser geht, zeige das Beispiel der Stadt Marburg: Die lahnaufwärts gelegene Universitätsstadt hat sich seit 2014 um 0,6 Notenpunkte verbessert und erreichte nun die Note 3,6. Auch Rüsselsheim, Offenbach, Darmstadt und Frankfurt liegen vor Gießen, obwohl in diesen Städten weniger Rad gefahren wird als in Gießen. Die Stadt Frankfurt hat sich beim Fahrradklimatest besonders verbessert: Sie hat auf den Hauptstraßen der Innenstadt die Anzahl der Autofahrspuren halbiert und auf den früheren rechten Fahrspuren über drei Meter breite, rot markierte Radfahrstreifen angelegt. In Frankfurt führt das zum Umstieg vom Auto aufs Rad. Die Verbesserungen zahlten sich nun aus: Bundesverkehrsminister Scheuer (CSU) überreichte der Stadt Frankfurt gestern (15.03.) den Preis für diese konsequente Radverkehrsförderung.

In Gießen haben die Radfahrenden aus Sicht des ADFC Gießen durchaus wahrgenommen, dass die Stadt u.a. mit den ersten Fahrradstraßen in jüngster Zeit etwas mehr für den Radverkehr getan hat. Sie bewerten die Radverkehrsförderung in jüngster Zeit mit der Note 3,6 und damit eine halbe Note besser als noch 2018. Auch die Ausweitung des Leihradsystems wurde positiv wahrgenommen: Hier verbesserte sich die Bewertung um 0,3 auf 2,4. Schlechter bewertet wurde hingegen die Breite der Radwege und die Falschparkerkontrollen: Hier sackte Gießen um eine Drittel-Note gegenüber 2018 ab.

Buseck ist fahrradfreundlich, Linden nur im Mittelfeld

Der ADFC Gießen freut sich über den guten Platz der Gemeinde Buseck, die in ihrer Größenklasse hessenweit Platz zwei erreicht hat. Positiv wurde in Buseck vor allem die Erreichbarkeit des Gemeindezentrums (Note 1,8) bewertet und die Möglichkeit zum zügigen Radfahren (Note 2,0). ADFC Vorstandsmitglied Jutta Oerter bewertet das Ergebnis ermutigend, führt es jedoch vor allem auf die Arbeit der Busecker Verkehrswendeinitiative zurück und betont, dass auch in Buseck noch viel Luft nach oben sei.

In Pohlheim loben die Radfahrenden vor allem die geöffneten Einbahnstraßen (Note 1,9) und die neuen Radwegweiser (Note 2,3), die die Gemeinde 2020 installiert hat. Neben fehlenden Leihfahrrädern wird von den Radfahrenden vor allem bemängelt, dass die Stadt Pohlheim kaum Werbung für das Radfahren macht, die Fahrradabstellanlagen oft ungeeignet sind und die Führung an Baustellen verbesserungswürdig ist (jeweils Note 4,2). Linden schneidet ebenfalls bei Leihfahrrädern (Note 5,1) und bei der Werbung für das Radfahren (Note 5,0) schlecht ab. Eine Note von 4,7 bekommt Linden für Falschparkerkontrollen, Ampelschaltungen und Winterdienst. Positiv wird beurteilt, dass viele Einbahnstraßen geöffnet sind (Note 2,9).

Der ADFC-Kreisverband Gießen dankt den Radfahrenden, die an der Befragung teilgenommen haben. Er weist darauf hin, dass alle drei Kommunen in den letzten Jahren im Radwegebau und bei der Öffnung von Einbahnstraßen große Fortschritte gemacht haben. Auf den Nebenstraßen gilt bereits überall Tempo 30, aber die Hauptstraßen machen oft noch Probleme. Hier wünscht sich der ADFC, dass die Bundesregierung den Kommunen noch mehr Möglichkeiten gibt, Tempo 30 einzuführen, wenn kein Platz für Radfahrstreifen auf den Hauptstraßen besteht.

ADFC-Ortsgruppe gibt Empfehlungen

Der ADFC rät den Kommunen Buseck, Pohlheim und Linden auch auf kleine und kostengünstige Maßnahmen zu setzen: Inzwischen seien viele Radfahrende elektrisch unterwegs. Es mangele in Linden, Pohlheim und Buseck aber noch immer an sicheren Abstellmöglichkeiten an öffentlichen Gebäuden. Pohlheim und Buseck sollten der Initiative Lindens folgen und an den Bahnhaltepunkten Fahrradboxen anbieten. Diese kleinen Fahrradgaragen erfreuen sich bei Bahnpendlern mit hochwertigen Rädern großer Beliebtheit, denn sie sind ein wirksamer Schutz vor Diebstahl oder Vandalismus. Besonders in Linden, aber auch in Buseck mahnt der ADFC an, dass konsequenter gegen Autofahrer vorgegangen werden solle, die auf Geh- oder Radwegen illegal parken. So betont ADFC-Vorstandsmitglied Jutta Oerter: „Radfahren lernt man am besten als Kind, doch wenn die Gehwege zugeparkt sind, können Kinder das sichere Radfahren im Alltag schlecht einüben. Hier müssen die Ordnungsämter die schwächsten Verkehrsteilnehmer schützen und dürfen Falschparken nicht länger dulden. Das hilft auch den Fußgängern im Ort.“

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Stephan Dietel
Gründer | Redaktionsleitung | CvD | Ressortleitung Straße | Leitung Multimediaredaktion | sd@radsportnachrichten.com

Er wohnt im Gießener Ortsteil Rödgen und legte im Jahr 2001 mit Erlebnisberichten über selbst gefahrene Radrennen den Grundstein. Mit großem Interesse am Radsport und am Journalismus entwickelt er mit seinem Team die Radsportnachrichten aus Mittelhessen immer weiter.

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